Ihr Trainer
Gerhard Herb
Selbstständiger Managementberater, Trainer und Coach
Die Welt, in der wir heute leben und arbeiten, ist deutlich komplexer geworden. Eine Komplexität, die uns herausfordert, zum Teil überfordert. In Zeiten der Unübersichtlichkeit beobachten wir einen Hang zum Egoismus und Egozentrismus, ob im aufkommenden Protektionismus der Staaten, im abgrenzerischen Gebaren politischer Gruppierungen oder im Dominanzverhalten egomaner Führender in Wirtschaft und Gesellschaft. Dieses »alte« Denken und Handeln ist zur Lösung der großen vernetzten Aufgaben nicht mehr geeignet. Was es braucht, ist ein neues Paradigma: eine Kultur des WIR.
Kultur des WIR – ist der Mensch dafür angelegt?
Wenn wir von einer Kultur des WIR sprechen, ist die Frage zu klären, ob wir Menschen dafür angelegt oder ob wir nicht vielmehr auf Konkurrenz, Wettbewerb und Egoismus eingestellt sind. Die Wissenschaft, vor allem die neurobiologische Forschung, bezieht hier eindeutig Stellung. So schreibt Prof. Joachim Bauer in seinem Bestseller Prinzip Menschlichkeit1: »Wir sind – aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen. Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben.«
Die zwischenmenschliche Beziehung ist demnach die »Quelle« aller Motivation und ihr kommt eine entscheidende Bedeutung in der Erfüllung menschlichen Lebens zu. Dr. Gerald Hüther2 geht sogar noch einen Schritt weiter. Er konstatiert, dass das menschliche Gehirn durch Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen geformt und strukturiert wird. »Unser Gehirn ist also ein soziales Produkt und als solches für die Gestaltung von sozialen Beziehungen optimiert. Dass kein Mensch allein überleben, geschweige denn die in ihm angelegten Potenziale entfalten kann, ergibt sich daraus zwangsläufig.«
Zugleich hat jeder Mensch seine unverwechselbare Eigenart, ist ein Individuum, was aus psychologischer Sicht zu einem Paradox führen (kann). Der Logotherapeut Prof. Alfried Längle3 beschreibt das so: »Wir Menschen stehen in einem Wechselspiel mit unserer Welt, von der wir uns einerseits abgrenzen und unterscheiden müssen, weil wir ein eigenes Wesen haben, das uns unterscheidet von allen anderen Menschen und Dingen. Andererseits sind wir aber vom Anfang unseres Lebens immer auf andere Menschen bezogen und leben im ständigen Austausch mit ihnen. Wir brauchen Beziehung und Begegnung, um zu existieren.« Der Mensch sucht daher zeitlebens nach Beziehungen, die es ihm ermöglichen, sich gleichzeitig verbunden und frei zu erleben.
Kultur des WIR – welche Form von Führung?
Wir Menschen werden durch Begegnungen zu dem, was wir sind. Wir wachsen durch jede neue Begegnung, durch die Fülle und Tiefe unserer Beziehungen, so die Erkenntnis des bekannten Benediktinerpaters Bruder David Steindl-Rast in seinen Lebenserinnerungen4. Und zugleich sind wir Individuen, die sich selbst verwirklichen und miteinander messen möchten. Diese Polarität unter einen Hut zu bringen, dafür zu sorgen, dass Konkurrenz nicht zur Selbstverwirklichung auf Kosten anderer ausartet, ist die Kunst des Führens.
Führen in diesem Sinne bedeutet, Raum zu geben für die jeweilige Eigenart. Nicht Anpassung zu fordern, sondern dem Individuellen angemessen Spielraum zu geben, sich schöpferisch einzubringen. Denn Menschen sind erst dann offen und zugewandt für die Bedürfnisse und Anliegen des anderen, wenn sie in Bezug auf grundlegende, ichbezogene Bedürfnisse nicht im Mangel sind. Der zweite Aspekt einer solchen Führungskunst ist, Begegnungen zu ermöglichen, Menschen miteinander zu vernetzen, das Gefühl von Zugehörigkeit zu vermitteln. Eine Führung in diesem Geiste bemüht sich nach Kräften, das Ganze zu sehen und seinen Einfluss geltend zu machen, dass der Erfolg des Einzelnen im Rahmen des Ganzen wirkt. Oder wie es Steindl-Rast ausdrückt: Qualitäts- statt Verdrängungskonkurrenz zu fördern.
Die Basis einer solchen Führungskunst ist ein gereiftes Verständnis von Macht – nicht um zu trennen (divide et impera), sondern um andere zu ermächtigen, sich in Gemeinschaft selbst zu verwirklichen, füreinander statt gegeneinander zu arbeiten. Eine solche Kultur des WIR, die auf die Kraft des Zusammenspiels und der Vernetzung setzt, kann aber nur in einem Vertrauensraum gedeihen. Schon Goethe hatte diese Idee von Ermächtigung im Sinne, als er empfahl: »Wenn du jemanden dazu bewegen willst, sein Bestes zu leisten (zu zeigen), musst du dieses Beste (Höchste) in ihm sehen und daran glauben!«
Kultur des WIR – welche Form von Organisation?
Zukünftige Führung besteht also weniger in Steuerung und Kontrolle, sondern im Freisetzen menschlicher Kreativität, im Ermächtigen. Für Dr. Gerald Hüther ist Kreativität der Stoff, aus dem Zukunft besteht. Er beschreibt menschliche Kreativität spannenderweise als einen Beziehungsprozess: »Wir sind begeisterte und einander begeisternde Wichtigtuer; d.h. wir sind die einzigen Lebewesen, die sich nicht nur selbst mit Begeisterung etwas ausdenken können, sondern die dazu eine Gemeinschaft brauchen. Wir Menschen sind begeisterte und einander begeisternde Entdecker und Gestalter einer miteinander geteilten und geschaffenen gemeinsamen Lebenswelt.«
Um diesen Prozess zu verstärken, benötigen wir neue Formen der Zusammenarbeit in Unternehmen, neue organisationale Modelle. In großem Stile sind wir schon heute Wissensarbeiter, die nicht mehr in abgegrenzten »Silos« arbeiten (können), sondern die Zusammenarbeit und Vernetzung über Abteilungs- und manchmal auch Unternehmensgrenzen hinweg benötigen, um das Unternehmen zukunftsfähig zu gestalten. Welche Organisationsdesigns diesen Prozess unterstützen, schält sich gerade heraus. Erste erfolgreiche Unternehmensbeispiele zeigen, dass es um einen Abschied von der klassischen Hierarchie mit seinem Silodenken gehen wird, hin zu vernetzten, sich selbstorganisierenden Einheiten, die auf ein Zusammenspiel von Geben und Nehmen unter Gleichberechtigten und Gleichverpflichteten setzen.
Der Zukunftsforscher Franz Kühmayer5 sieht das ähnlich und sagt voraus: »Leadership bedeutet daher künftig immer öfter, Grenzen und Barrieren innerhalb und am Rande des Unternehmens zu hinterfragen und Abläufe nicht abschnittsweise zu denken, sondern den Schritt von der Prozesskettenoptimierung zur interdisziplinären Zusammenarbeit zu machen. Denn an die Stelle der Wertschöpfungskette, in der eine Leistung von einem Akteur zum nächsten weitergereicht wird, tritt ein reichhaltig schillerndes Wertschöpfungsnetzwerk, in dem Leistungen gemeinsam entwickelt und erbracht werden und in dem sich die Rollen immer wieder verändern.«
Eine Kultur des WIR, wie hier beschrieben, benötigt also einen Reifungsprozess auf drei Ebenen. Auf der individuellen Ebene geht es darum, dass wir Menschen fähiger werden, den Gemeinschaftswerten den Vorrang vor Ego-Werten zu geben. Auf der Ebene von Führung geht es darum, eine innovations- und kreativitätsfördernde Unternehmenskultur auf der Basis einer geteilten, übergreifenden Zielsetzung (das Wofür der Gesamtorganisation – Purpose & Values6) zu gestalten. Dies setzt vertrauensvolle, sich selbst-bewusste Führungskräfte voraus, die, ausgestattet mit gereiftem Lebensvertrauen, mehr ermächtigen als trennen und das Ganze im Blick haben. Letztlich brauchen wir entwickelte Organisationsstrukturen, die das heute noch oft vorherrschende Bereichsdenken (Wir-Die-Denke) abbauen – was häufig das Verfolgen gemeinsamer Zielsetzungen verhindert – und einem Wir-Denken Platz machen, das nicht trennt, sondern nach dem Prinzip lebt: miteinander das Beste hervorbringen.
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Prof. Roman Stöger in einem aktuellen Beitrag7, der sich mit der Zukunftskompetenz von Managern und Unternehmen beschäftigt: »Eine digitale Kultur ist eine der Vernetzungsfähigkeit, der Lösungsorientierung, der Selbstorganisation und der Resultate. Auf Metaebene sind das die entscheidenden Kompetenzen, die in der digitalen Welt den Unterschied darstellen. All das kann nicht verordnet werden, es entsteht über Zeit, durch Vertrauen, durch Vorbild der Führung und durch kompetentes Steuern des Digitalisierungsprozesses.«