Führen mit Niklas Luhmann

Ein reicher Fundus an Gedanken


In meinen Führungstrainings komme ich mit vielen angehenden Führungskräften in Kontakt, die ich in ihrem Entwicklungsprozess zur Ausbildung einer höheren Führungskompetenz begleite. Im Rahmen der Seminare denken sie viel über sich selbst und ihre »Einflussnahme« auf andere nach. Sie reflektieren und erkennen eigene Handlungs- und Kommunikationsmuster und versuchen dann natürlich auch ihre Wirksamkeit in Richtung der gewünschten Ziele zu bewerten und nach Möglichkeit zu erhöhen.

Nutzen die Teilnehmenden dieses Lernangebot, müssten sie doch gut gewappnet und somit immer erfolgreich sein, sich selbst, ihre Teams und ihr Unternehmen zu führen. In der Realität gelingt das nur teilweise. Dort treffe ich Führungskräfte, die sich trotz Weiterbildung und einer guten persönlichen Ausgangssituation (Expertise, Empathie, Zielorientierung) an ihrem Auftrag aufreiben und sich das sehr häufig als persönliches Versagen anlasten. Führungskräfte versuchen dann, durch das Ausweiten oder gar Aufgeben ihrer persönlichen Grenzen in Bezug auf ihre Zeit und ihre persönlichen Werte dem vermeintlichen »Versagen« entgegenzuwirken. Dies kann im besten Falle zu Ratlosigkeit, im schlechtesten zu Burn-out oder zynischer Distanziertheit und Dienst nach Vorschrift führen.

Dass ich als passionierte Trainerin und Beraterin die Idee von Führungskräftetrainings grundsätzlich in Frage stelle, kann hier niemand ernsthaft erwarten. Dazu bin ich zu sehr der festen Überzeugung, dass eine verbesserte Selbstkenntnis und -führung zur menschlichen Existenzentwicklung gehört, die mit dem Annehmen der eigenen Rolle und ihren darauf aufbauenden Entscheidungen das Leben anderer maßgeblich beeinflusst. Eine solche persönliche Weiterentwicklung kann nicht allein im »stillen Kämmerlein« stattfinden, vielmehr profitiert sie von der Auseinandersetzung mit anderen Personen und deren Feedback.

Zeitlose Systemtheorie

Worauf beruht also die »Schattenseite« des Führungsdaseins, das Erleben von Vergeblichkeit, Wirkungslosigkeit und Frust, bis hin zum Verlassen des Unternehmens? Im Rahmen einer Weiterbildungsreihe »Lehren von Luhmann« begebe ich mich zurück auf eine alte Spur, die aus meiner Vergangenheit als Soziologin rührt. Hier erlebe ich, dass mein Unbehagen und meine Fragen sprachlichen Ausdruck und einen Denkansatz bekommen. Entgegen allen Vorwürfen von »Angestaubtheit« oder mangelnder Humanität bietet die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann einen reichen Fundus an Gedanken, die auch in unserer Gegenwart überraschend aktuell sind.

Informalität spielt immer eine Rolle

Nach Luhmanns Systembegriff sind Unternehmen komplexe Organisationen, die zur Erfüllung ihrer Daseinszwecke Eigendynamiken entwickeln, die nicht nach dem einfachen Ursache-Wirkung-Prinzip beeinflussbar sind. In einer Organisation gibt es formale Erwartungsstrukturen, das heißt offiziell abgestimmte und beschreibbare Prozesse und Regeln, die ich zunächst einmal akzeptieren und unterstützen muss, wenn ich Teil dieser Organisation sein möchte. Daneben gibt es auch eine informale Erwartungs- und Handlungsstruktur, die sich nicht in der formalen beschreiben lässt und dieser teilweise sogar widerspricht.

Die Informalität entsteht, da kein Regelwerk perfekt alle Eventualitäten beschreiben kann, womit die Abweichung vom Regelwerk selbst notwendig wird. Zudem ergeben sich aus dem formalen Regelwerk häufig Zielkonflikte, beispielsweise kreative Innovationsprozesse vs. hohe Geschwindigkeit und wenig Geld. Erkennbar werden diese beiden Sphären auch in den für eine Organisation charakteristischen sowie immer wieder neu entstehenden Kommunikationsmustern. Diese wiederum sind nicht objektivierbar, sondern können nur zwischen verschiedenen Akteuren interpretiert werden.

Vom Paradox der formalen Führung

Luhmann versteht unter Führung zunächst etwas anderes als Hierarchie. Führung entsteht für ihn elementar aus dem Zusammentreffen eines kritischen Moments, dem Angebot einer Person, die mit einem Vorschlag zur Lösung des Problems in Führung geht, und der Entscheidung der anderen, dieses Angebot anzunehmen. Hierarchie versucht nun, diesen fortlaufenden elementaren und dynamischen Prozess durch die Zuschreibung der Entscheidungskompetenz zu einer Rolle zu vereinfachen. Für die Organisation besteht der Nutzen von Hierarchie dann in der Reduktion von Komplexität.

Hieraus bildet sich ein Paradox. Wenn die Organisation mit der Hypothese arbeitet, dass von nun an die mit der Rolle betraute Führungskraft immer die beste Idee hat, beschneidet sie zugleich auch die Anzahl möglicher bester Lösungen, die dann in der Hierarchie versanden. Gerade aktuelle Führungskonzepte wie Agilität, bei denen Entscheidung und wechselnde Führung an selbstorganisierte Teams zurückdelegiert werden, zeugen von dem Versuch, das Paradox der formalen Führung (Vereinfachung vs. Verlust an Kreativität) aufzulösen.

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Systemwissen entlastet Führungskräfte

Nach diesem Einblick in die Welt der Luhmannschen Systemtheorie möchte ich die folgenden Impulse formulieren:

  • Führungskräfte brauchen Systemwissen. Wissen über die Eigenarten und Dynamiken in Organisationen – neben dem Wissen über sich selbst, über Kommunikation und Teamdynamik. Teil von Führungsarbeit wäre dann – im besten Falle gemeinsam – auch die informalen Strukturen, Rollenerwartungen und Handlungsmuster zu erkunden, anstelle sich daran festzuhalten, dass es sie nicht gibt.
  • Führungskräfte benötigen Ambiguitätstoleranz. Um diese zu erlangen, unterstützen Führungskräftetrainings. Hilfreich, um den Ausgang eigener Entscheidungen auszuhalten und zu akzeptieren, dass sich eine Organisation nie genau dorthin bewegt, wo man sie gerne hätte.
  • Führungskräfte könnten ihre Rolle neu definieren. Die Erkenntnis, dass das System durch Irritationen lernt, kann dazu beitragen, die systematische Überforderung an die Wirksamkeit der Führungsrolle durch die Führungskraft selbst und andere Stakeholder abzufedern. Sie können beginnen, zu experimentieren und irritierende Elemente einzubringen, ohne die eigene Verantwortung zu negieren. Mit dem Bewusstsein, dass sie manchmal genauso wenig wissen wie andere, aber dennoch den Mut haben, Entscheidungen zu treffen und zu beobachten, ob diese Impulse zu Irritation und Veränderung führen oder nicht.

Und so käme aus der Systemtheorie von Luhmann ein sehr humaner Impuls: eine Entlastung für die Führungskraft sowie die Ermutigung, mit offenem Blick und Neugierde und Integrität, jeden Tag auf dem großen Spielfeld der Organisation mitzuspielen.

IHRE AUTORIN

Soziologin, Organisationsberaterin und Trainerin

Ausgewählte Schwerpunkte
> Entwicklung und Training von Führungskräften
> Kommunikationstheorie und -praxis
> Strategie- und Teamentwicklungsworkshops
> Systemische Organisationsberatung

 

 

Christine Zimmer

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