Präsenz in der Führung - vom Benefit der Achtsamkeit im Berufsleben

»Man erkennt den großen Chef an diesem Zeichen: seine bloße Gegenwart ist für die Menschen, die er leitet, eine Anfeuerung, sich selbst zu übertreffen. Ersetzen Sie »Gegenwart« durch »Denken an ihn« und Sie haben die ganz großen Chefs.« Abbé Gaston Courtois (Ratgeber von Charles de Gaulle)

Im letzten Newsletter haben wir dargestellt, welchen Stellenwert die Selbstkompetenz neben der sozialen Kompetenz für die Führung hat. »Nur wer sich selbst gut führt, kann andere führen« war ein Leitgedanke auf dem Weg zur authentischen Führungskraft. Heute wollen wir uns damit befassen, welchen Stellenwert die Präsenz im Rahmen der Selbstkompetenz hat. Zusammengefasst heisst das: Präsenz wird in der Reizüberflutung der Postmoderne zur Notwendigkeit. Präsenz ist unterschiedlich zur reinen Konzentration und im Erscheinungsbild einer Persönlichkeit erkennbar. Präsenz ist lernbar und kann begrenzt gecoacht werden. Der Benefit der Präsenz im Berufsleben zeigt sich in der gesteigerten Führungskraft, der natürlichen Autorität der authentischen Führungspersönlichkeit und einem Zuwachs an innerer Lebensfreude.

1. Präsenz im beruflichen Alltag und in der postmodernen Arbeitswelt
Schauen wir auf den ganz normalen Alltag im Berufsleben, um die Wirkung der Präsenz einer Führungskraft zu untersuchen. Reicht es bereits für ihren Erfolg und ihre eigene Erfüllung, wenn sie konzentriert arbeitet und sich auf das Wesentliche konzentriert oder gar nur anwesend ist? Welchen Stellenwert hat ihre Achtsamkeit? Wodurch ergibt sich charismatische Führung?

Präsenz in der postmodernen Arbeitswelt
Wir leben derzeit in einer gesellschaftlichen Entwicklung, die im alltäglichen Leben mannigfache "Fenster" von Unterbrechungen immer schneller aufblitzen lässt ("popup windows"). Arbeiten am PC, Handyklingeln, Nachrichten, Verkehrsmeldungen im Navigator, Börsennotiz auf dem Pager, E-Mailbenachrichtigung am Bildschirm, Fernsehzappen etc. Die Reaktion von Kindern darauf äußert sich im ADS, dem sog. Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. 6 - 8 Mio. Kinder in den USA bekommen dafür das Psychopharmakon Ritalin, ein Amphetamin. In Deutschland stiegen die verschriebenen Ritalin-Einheiten von 1995 bis 1999 um das 40-fache. Bereits 2001 wurden ca. 16 Mio. Tageseinheiten dieser Psychostimulanzien in Deutschland verschrieben. Wir können diesen Konzentrationsmangel auch bei Führungskräften und erwachsenen Mitarbeitern am Arbeitsplatz erkennen. Dieses Syndrom lässt sich als ein Organisationsphänomen in Firmen diagnostizieren: Unternehmens-ADE. Dr. Edward HalloweIl, ein Psychiater, sagt, dass diese Eigenschaft in Unternehmen epidemische Ausmaße annimmt. ADE sei das Ergebnis eines modernen Arbeitsplatzes, des fortwährenden Geschwätzes aus unseren Computern, Telefonen und anderen Hightech-Geräten, das unsere geistigen Kräfte schwächt. Aber dieses Phänomen kommt aus einer bestimmten Art des Denkens und grassiert vor allem in solchen Organisationen, in denen Ziele und langfristige Strategien fehlen. Der erst kürzlich verstorbene Grandseigneur der Unternehmensberatung Peter Drucker sagt in seinem Leitsatz: »Wenn es ein Geheimnis der Effektivität gibt, dann ist dies Konzentration.« Stephen Covey arbeitet in seinen »7 Wegen zur Effektivität«1 den Führungs- und Organisationsaspekt der »Konzentration auf das Wesentliche« als einen zentralen Erfolgsfaktor heraus. Er beschreibt darin einen gangbaren Weg, wie das oben geschilderte Paradigma der Dringlichkeit, das zum ADE führt, durch das Paradigma der Wichtigkeit abgelöst werden kann. Die Konzentration auf das Wesentliche ist die Grundlage einer konsequenten Führung mit Zielen, Prioritäten und zugehöriger Strategie.

2. Konzentration, Präsenz und Achtsamkeit
Konzentration ist die psychisch mentale Fähigkeit, als Subjekt den gegenwärtigen Bewusstseinsstrom der eigenen Aufmerksamkeit beständig auf ein gewähltes Objekt, einen Reiz oder einer Tätigkeit zu halten. Diese Fokussierung ist ein Willensakt, dessen Energie für gewöhnlich mit der Zeit nachlässt. Wir finden sie im Spiel, beim Lernen, beim Arbeiten, im Kampf, in der Musik und beim Zähneputzen. Konzentration ist eine ganzheitliche Fähigkeit, die neben einem psychischen und einem mentalen, auch einen stark körperlichen und praktischen Aspekt der Person beinhaltet.

Präsenz und Achtsamkeit
Präsenz ist eine passive Aktivleistung, die der Konzentration die Offenheit, die Zugewandtheit und die Entspanntheit hinzufügt. Sie ist eine Integration von Anspannung (Konzentration) und Entspannung (Gelassenheit). Für unseren Zweck verwenden wir die Begriffe der Präsenz und der Achtsamkeit synonym. Dazu eine Zen-Geschichte:
Der berühmte Meister Ikkyu, einer der großen Einsichtigen und Meister Ostasiens, wurde von einer ganzen Delegation besucht. Die Besucher baten den Weisen, ihnen den Weg zu echter Lebens-Meisterschaft zu erklären. Einer der Männer fragte den Zen-Meister: »Meister, wollt Ihr mir bitte einige Grundregeln der höchsten Weisheit aufschreiben?« Meister Ikkyu lachte, stand auf und schrieb in schöner Kalligraphie das Wort: Achtsamkeit. »Ist das alles?«, fragte der Mann. »Wollt Ihr nicht noch etwas hinzufügen?« Wieder lachte der erleuchtete Meister und schrieb: Achtsamkeit. Achtsamkeit. »Nun«, meinte der Mann ziemlich gereizt, »ich sehe wirklich nicht viel Tiefes oder Geistreiches in dem, was Du gerade hinzugefügt hast.« Da nahm Meister Ikkyu den Pinsel und schrieb: Achtsamkeit. Achtsamkeit. Achtsamkeit. Verärgert wollte der Mann nun wissen: »Was bedeutet dieses Wort 'Achtsamkeit' überhaupt?« Ikkyu antwortete sanft: »Achtsamkeit bedeutet Achtsamkeit.«

Achtsamkeit beinhaltet sowohl Aufmerksamkeit wie Bewusstheit in Verbindung mit Gelassenheit. Wir können auch von gelassener Achtsamkeit sprechen. Achtsamkeit bedeutet auch, offen sein für die Einzigartigkeit aller Menschen, Dinge und Ereignisse. Achtsamkeit ist voll entwickelte Aufmerksamkeit. Achtsamkeit ist eine Tugend, die in den östlichen Wegen, z.B. auch bei den Budo-Sportarten, einen zentralen Stellenwert genießt und Ausdruck einer tiefen inneren Haltung ist. Jon Kabat-Zinn, Stressforscher und Professor für Molekularbiologie an der renommierten Universität Massachusetts, der von sich sagt, dass er kein Buddhist ist und auch keiner werden will, schreibt dazu in seinem Buch »Im Alltag Ruhe finden«: Doch so intensiv und befriedigend es auch sein mag, sich in der Konzentration zu üben, bleibt das Ergebnis doch unvollständig, wenn sie nicht durch die Übung der Achtsamkeit ergänzt und vertieft wird. (...) Was diesem Zustand fehlt ist die Energie der Neugier, des Wissensdrangs, der Offenheit, der Aufgeschlossenheit, des Engagements für das gesamte Spektrum menschlicher Erfahrung. Dies ist die Domäne der Achtsamkeitspraxis, in welcher die Einspitzigkeit und die Fähigkeit Ruhe und Stabilität in den Augenblick hineinzubringen, genutzt werden kann, um tief in die Vernetztheit einer Vielzahl von Lebenserfahrungen hineinzublicken (5. 75). Die präsente Achtsamkeit integriert die körperlich-spürende, die praktisch-handelnde, die psychisch-emotionale sowie die mental-wache und aufmerksam-bewusste Ebene. Sie bildet somit eine Kerneigenschaft der integralen Persönlichkeit. Zum Beispiel kann eine achtsame Führungskraft in einer Sitzung bemerken, dass sie unzufrieden damit ist, wie das Thema behandelt wird und dass sie aggressiv wird. Anstatt sich auf der Sachebene in inhaltlichen Beiträgen mit anderen zu verstricken, spürt sie in ihren Körper hinein, der ihr heftige Angespanntheit und Unruhe signalisiert. Eine kurze Reflektion bringt sie z.B. mit der eigenen Angst, kein Ergebnis zu erreichen oder dem inneren Antreiber »sei schneller« in Kontakt. Als Ergebnis beantragt sie vielleicht eine Pause, weil alle schon seit 1 1/2 Stunden da sitzen und klärt den möglichen Lösungsumfang für die verbleibende halbe Stunde.

3. Präsenz und Persönlichkeit
Diese Präsenz kennzeichnet also die integrale und authentische Führungspersönlichkeit. Authentizität entsteht dadurch, dass das gegenwärtige Auftreten der Person durch das Auge der Bewusstheit mit dem Kern der eigenen Persönlichkeit verbunden bleibt. Insbesondere ihr eigenes psychisches Narbengeflecht und ihre eigenen emotionalen Muster von Reaktivität hat die achtsame Führungskraft nicht abgespalten. Ihre präsente Bewusstheit hilft ihr, zu den eigenen Schwächen und Verletzungen zu stehen. Das macht uns menschlich und authentisch.

Entscheidungspräsenz
Caesar hat in einer Welt ohne »popup windows« angeblich 3 Briefe gleichzeitig diktiert. Dies spricht für seine außergewöhnliche Konzentrationsfähigkeit. Sowohl der gordische Knoten, den Alexander der Große in einem Augenblick durchschlug als auch das Ei des Kolumbus sind Beispiele der Gegenwärtigkeit von Führungspersönlichkeiten. Ebenso gilt ein »hic Rhodos, hic salta!«(i) seit alters her als eine Metapher der Präsenz im engeren Sinne. Unsere Konzentration, unsere Dichte, unsere Aufnahmefähigkeit, unsere Offenheit, unsere Nicht-Besetztheit und unser Ruhen in uns selbst - bei gleichzeitiger Aufnahmefähigkeit der äußeren Welt - sind durch unsere Gegenwärtigkeit und Präsenz bedingt.

Wie äußert sich Präsenz in der Persönlichkeit?
Woran erkennen wir diese persönliche Präsenz? Holen Sie sich bitte einmal eine Führungspersönlichkeit vor Ihr inneres Auge, die Ihnen Vorbild war. War sie präsent? Können Sie jetzt bemerken, dass die Präsenz einer Person spürbar ist und welchen Benefit verbinden Sie jetzt mit dieser Qualität der Präsenz einer Person? Der Osten fügt dem Begriff der »Achtsamkeit« die Qualität des offenen Herzens hinzu. Das offene Herz öffnet sich dem Neuen, dem Unbekannten gegenüber und führt somit zu Angstfreiheit vor der Zukunft, zu Zuversicht und Vertrauen. Es hängt auch nicht an Wunschvorstellungen über die Zukunft. Das offene Herz zeigt sich durch unser Nicht-Besetztsein von der Vergangenheit. Es ist frei von emotionalen Blockaden und mentalen Vorurteilen. Beide Aspekte sind durch unser »Nicht-Anhaften« an Zukunft oder Vergangenheit bestimmt und zeigen sich somit als Präsenz in der Gegenwart. Das wiederum bestimmt in wesentlichem Maße unsere FührungsKRAFT und darüber hinaus unsere Lebensqualität. Das offene Herz realisiert die innere Haltung des Wohlwollens. Liebevolles Mitgefühl äußert sich im Führungsalltag als Resonanz und Empathie. Achtsame Präsenz ist die Leiteigenschaft der authentischen und integralen Führungspersönlichkeit. Ihr Charisma kommt gerade darin zum Ausdruck. Ich kann mir keine charismatische Führungspersönlichkeit vorstellen, die sich nicht durch ein hohes Maß an Präsenz auszeichnet. Wenn sie dann wie Papst Johannes XXIII. angesichts der überwältigenden Vielzahl der Aufgaben und erdrückenden Verantwortung zu sich selbst sagt: »Giovanni, nimm dich nicht so wichtig!« entsteht menschliche Größe.

4. Wege der Achtsamkeit
In nahezu allen spirituellen Wegen - auch den christlichen - finden sich meditative Übungen der Achtsamkeit. Durch die Praxis der Achtsamkeitsübung, wie sie von vielen spirituellen Lehrern wie z. B. dem vietnamesischen Zen-Meister Thich Nhat Hanh2 gelehrt wird, können wir neuronale Autobahnen vom Persönlichkeitszentrum des präfrontalen Kortex zum Entscheidungs- und Integrationszentrum der Amygdala (Mandelkern) des Gehirns bauen. Studien der Gehirnforschung belegen dies mit Tests der emotionalen Intelligenz und Computertomographien (Daniel Goleman in: »Die heilende Macht der Gefühle« und »Emotionale Führung«3,4. Goleman nennt dies die »Neuroanatomie der Führung«4. Zur Vertiefung von Führung ist dann alles gesagt mit dem berühmten Satz von C. G. Jung: »Der Bewusstere führt den Unbewussteren.«

Vom Benefit der Achtsamkeitsübungen und der Präsenz im Berufsleben
Die Achtsamkeitspraxis wird Ihnen eine Vermehrung an Lebensqualität - vor allem in den kleinen Dingen des Alltags und damit beständig - bescheren. Durch Ihre eigene Präsenz steigt Ihre Authentizität als Mensch, Ihre Autorität als Führungskraft, Ihre Effektivität als Projektleiter, Ihre Beziehungsqualität als Partner und Ihre innere Freude am Leben. Was die Achtsamkeit über die Effektivität von Führung hinaus für unsere persönliche menschliche Entwicklung bedeuten kann, sagt Prof. H. Enomiya-Lassalle (Jesuit und Zen-Meister) sinngemäß: »Volle Achtsamkeit, die wir einem Mitmenschen schenken, ist bereits die nicht-sentimentale Form der Liebe«. Sein Mitbruder und ebenfalls Zen-Meister Nikolaus Brantschen kleidet diesen Beziehungsaspekt der Präsenz in die eingängigen Worte: »Wenn ich präsent bin, bin ich für den Anderen das größte Präsent.«

 


(1) Stephen R. Covey: Die sieben Wege zur Effektivität, Frankfurt, 1992, Campus Verlag
(2) Thich Nhat Hanh: Achtsam leben - wie geht denn das?, Berlin, 2005, Theseus Verlag
(3) Daniel Goleman (Hrsg.): Die heilende Kraft der Gefühle, München, 1998, DTV
(4) Daniel Goleman (Hrsg.): Emotionale Führung, 2003, Ullstein Verlag
(i) Der Ausspruch stammt aus einer Fabel Aesops, in der ein Fünfkämpfer damit prahlt, auf Rhodos einen gewaltige Satz getan zu haben; die Männer auf Rhodos könnten dies bezeugen. Darauf wird ihm geantwortet:»Hier ist Rhodos, hier springe!«

Ludger Beckmann | MCSL

Ihr Trainer

Ludger Beckmann
Selbstständiger Managementberater, Trainer und Coach

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