Der Perspektivwechsel in Coaching und Selbstcoaching

 

»Was ist es eigentlich das Coaching ausmacht?«, fragte mich vor einigen Wochen ein Coachee nach getaner gemeinsamer Arbeit. »Eigentlich sitzen wir doch nur hier und unterhalten uns!?». Eine Frage, die mich noch weiter beschäftigt hat. Was machen wir denn tatsächlich im Coaching? Wir unterstützen Menschen dabei, Situationen in einem neuen anderen Sinnzusammenhang zu erleben und ihnen so eine andere neue, nützlichere Bedeutung zuzuschreiben. Immer mit dem Ziel, einschränkende Überzeugungen so zu erweitern, dass sie die Selbstwirksamkeit des Einzelnen erhöhen und den Zugang zu den eigenen persönlichen Ressourcen und Talenten mehr und mehr zugänglich zu machen. Nützlicher Nebeneffekt: In der Regel entsteht außerdem größere innere Zufriedenheit und mehr Wohlempfinden.

Diesen Perspektivwechsel, der in der Arbeit als Coach so wichtig ist, möchte ich hier etwas näher betrachten: Den Blick neu auszurichten, sich selbst durch Fragen zu lenken, ist etwas, das auch im Selbstcoaching hervorragend funktionieren kann. Hier also nun ein paar Ideen, wie man durch Perspektivwechsel einen neuen Blick auf die Dinge und damit überraschende Einsichten gewinnen kann.

Eine kleine Auswahl an interessanten Perspektiv-Erweiterern:

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
Die drei zeitlich orientierten Perspektiven gehören zu den Klassikern beim bewussten Perspektivwechel. In der Betrachtung einer aktuellen Situation entsteht die Frage, wie wir uns in der Zeit orientieren.

  •  Vergangenheit: Bewerte ich was war? Ärgere ich mich über nicht mehr änderbare Handlungen, Situationen, Informationen, etc., die verloren gegangen sind? Schwelge ich in schönen Erinnerungen? Halte ich fest an unwiderruflich Verlorenem?
  • Gegenwart: Was genau brauche ich jetzt?
  • Zukunft: Wie kann ich das in Zukunft vermeiden? Oder wieder in mein Leben bringen?
     

Häufig erleben wir im Coaching auch klare Tendenzen: Menschen schauen bevorzugt zurück oder nach vorne. Trifft der eine auf den anderen, kann es dabei ganz schön hakeln. Im Coaching ist es daher sehr relevant, allen Perspektiven gleichwertigen Raum zu geben.

Assoziiert – Dissoziiert
Wenig bekannt, aber außerordentlich nützlich, ist die Fähigkeit, sich perspektivisch in die Assoziation hinein und wieder hinaus (Dissoziation) bewegen zu können. Insbesondere in Situationen, in denen man starke Gefühle erlebt, kann das dissoziieren – sprich, etwas von außen zu betrachten – erleichternd sein und maßgeblich zu souveränem Handeln beitragen. Dieser Wechsel wird häufig als nicht einfach erlebt. Praktisch können Sie sich selbst unterstützen, indem Sie tatsächlich räumlich den Ort wechseln, sich z.B. ans Fenster stellen und bewusst von außen auf die Situation blicken. Stellen Sie sich vor, dass Sie sich in der Situation von außen betrachten, dass Sie sehen, wie Sie agieren, während Sie sich auf neutralem Boden wissen und geben Sie sich selbst einen Rat. Das Dissoziieren kann ausgesprochen hilfreich sein, wenn es darum geht, Emotionen zu kontrollieren, besonnen zu bleiben im Ärger und trotz Angst handlungsfähig zu bleiben.

Ich – der andere
Kennen Sie den weisen Spruch der Indianer: Bevor du einen Menschen beurteilst, gehe drei Monde in seinen Mokassins … ? Insbesondere in der Konfliktklärung und eigentlich überall, wo es darum geht, ein tieferes Verständnis für die Position und Motivation des Anderen zu erlagen, ist es hilfreich sein, sich einmal tatsächlich auf den Stuhl des Anderen zu setzen, seine Haltung einzunehmen, sich hineinzudenken und hinein zu spüren in diese unbekannte Perspektive. Gar nicht selten funktioniert das besser als erwartet und es kommen Ihnen Ideen und Vermutungen, auf die Sie auf Ihrem eigenen Stuhl nicht gekommen wären.

Rollen – Führungskraft, Vater, Kollege, Hobbygärtner, Weltreisender, …
Jeder von uns bedient verschiedene Rollen im Leben. Diese lassen sich nutzen, um eine Situation neu zu bewerten. Fragen Sie einen Mitarbeiter, der Hobbygärtner ist, wie er aus Sicht des Gärtners die Zusammenarbeit im Team sieht. Falls Sie schon viel in der Welt herumgekommen sind, fragen Sie sich aus Sicht eines Weltreisenden, wie denken Sie über den Konflikt mit dem Vertrieb | der Produktion, …? Dieser Perspektivwechsel wird übrigens auch häufig zur Steigerung des kreativen Potentials genutzt: Angenommen, wir hätten beliebig viel Geld dafür zur Verfügung, … angenommen, die Veranstaltung würde auf einer karibischen Insel stattfinden, … angenommen, wir müssten uns auf Papier und Bleistift beschränken, … welche Ideen kommen euch dann?

Systemperspektiven
Um mit John Donne zu sprechen: »Niemand ist eine Insel.« Es gibt immer ein System, in dem wir uns bewegen, das uns beeinflusst, das wir beeinflussen. Warum nicht die Betroffenen, auf Neudeutsch die meine Frage betreffenden Stakeholder, in unsere Überlegungen mit einbeziehen. Fragen Sie sich: Was würde der Chef, die Kollegin, der Mitarbeiter, das Produkt, der Kunde, das Unternehmen, der Vertrieb, die Produktion, der Gründer dazu sagen? Ihnen raten?

Ego – Gemeinschaft – Spirit
Insbesondere in Entscheidungsfragen kann folgender Perspektivwechsel hilfreich sein.

  • Ego: Der Blick auf das Ego hilft, die eigene Position, den eigenen Nutzen, den Preis, den man gegebenenfalls persönlich zahlen müsste, zu erkennen. Welche Auswirkungen hätte die Entscheidung auf mich? Kann ich schauen auf das, was mich betrifft, was eine Entscheidung für mein Ego, mein persönliches Wohlbefinden, mein Statusempfinden, meine Karriere, meinen persönlichen Erfolg, meine Gesundheit bedeutet?
  • Gemeinschaft: Der Blick auf die Gemeinschaft, in der ich mich bewege, kann wiederum ganz andere mögliche Auswirkungen begreifbar machen: Wie würde sich eine Entscheidung auswirken auf das Gesamtergebnis des Unternehmens, auf die Möglichkeit der Kollegen, sich weiter zu entwickeln durch meinen Verzicht darauf, zu glänzen, auf mein Familienleben, auf mein Team?
  • Spirit: Oder kann ich sogar eine noch weitere größere religiöse oder spirituelle Perspektive einnehmen, z.B. »Dein Wille geschehe …«  und welche Bedeutung bekommen Situationen, Erlebnisse, Erfahrungen dann? Was könnte der höhere Sinn sein und muss ich ihn verstehen oder kann ich einfach darauf vertrauen, dass das Richtige geschieht? Eine Perspektive, die z.B. hilfreich sein kann, die eigene erlebte Ohnmacht in bestimmten Situationen anzunehmen: Ich kann da nichts tun, ich muss da nichts tun.
     

Die Frage, durch welche Brille ich die Welt sehe, ist immer wieder meine eigene Entscheidung. Im Coaching unterstützen wir diesen Prozess, indem wir Fragen stellen. Aber um das Eck denken kann man auch wirklich gut beim Sinnieren oder im Gespräch mit Kollegen, Vorgesetzten, Mitarbeitern, Freunden.  Ich wünsche Ihnen beim Ausprobieren jedenfalls viel Freude, gutes Gelingen und ein paar interessante, überraschende neue Einsichten.

Annette Fährmann | Trainerin MCSL

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Annette Fährmann
Selbstständige Managementberaterin, Trainerin und Coach

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